3D-Aktivierungsrechnungsverfahren für den Rückbau von Kernkraftwerken weiterhin auf Erfolgskurs
Zuletzt für das Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich: Mit dem erfolgreichen Abschluss der Aktivierungsrechnungen für dieses Kernkraftwerk schuf die Siempelkamp NIS die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Rückbau. Mülheim-Kärlich reiht sich ein in eine Reihe von kerntechnischen Anlagen (Druckwasser- und Siedewasserreaktoren), deren Aktivitätsinventar erfolgreich mit dem von Siempelkamp NIS entwickelten, neuartigen 3D-Aktivierungsrechnungsverfahren berechnet werden konnte.
Herausforderung Rückbau
Die geplante Stilllegung aller kerntechnischen Anlagen in Deutschland aufgrund der Energiewende sowie der Rückbau internationaler Kernkraftwerke stellen die Betreiber vor erhebliche technische und wirtschaftliche Herausforderungen. Für den Rückbau eines Kernkraftwerkes ist die genaue Kenntnis des durch den jahrzehntelangen Betrieb der Anlage entstandenen radioaktiven Inventars aller Komponenten erforderlich. Einerseits benötigt man sie für die Stilllegungsgenehmigung, andererseits ist es wirtschaftlich nicht praktikabel, überall in der Anlage und für jede einzelne Komponente Beprobungsmessungen durchzuführen. Daher sind vor dem Hintergrund der sicheren und wirtschaftlichen Planung des Rückbaus exakte Berechnungen des radioaktiven Inventars aller Komponenten unerlässlich.
Innovatives Berechnungsverfahren
Um dies zu leisten, entwickelte die Siempelkamp NIS Ingenieurgesellschaft mbH ein neuartiges innovatives Berechnungsverfahren auf Basis einer dreidimensionalen Simulationssoftware für kerntechnische Anlagen namens MCNP, die in Los Alamos / USA erfunden wurde. Sie ermöglicht es, das radioaktive Inventar des Kraftwerks in höchstem Detaillierungsgrad zu berechnen. Bei diesem neuen Verfahren wurde erstmals zusätzlich zur detaillierten, realistischen Modellierung der 3D-Geometrie die gesamte Leistungshistorie der über mehrere Jahrzehnte laufenden Anlagen exakt mit allen eingesetzten Brennelementen einbezogen. Dieses Verfahren ist mittlerweile standardmäßig implementiert.
Das Berechnungsverfahren ermöglicht es, mit bisher unerreichter Genauigkeit auch in der langfristigen zeitlichen Vorschau an jeder Stelle der Anlage bezüglich des radioaktiven Inventars Vorhersagen zu treffen. Dies erlaubt es, für den Reaktordruckbehälter inklusive aller Einbauten auch kleinste Aktivierungen bis unterhalb der Grenze der natürlich vorhandenen Radioaktivität zu bestimmen – auch für die weiter außerhalb liegenden Komponenten wie ‚Biologischer Schild‘ und Loopleitungen bis hin zu den Dampferzeugern.
Das neue Verfahren wandte die Siempelkamp NIS Ingenieurgesellschaft mbH auf internationaler Ebene bereits erfolgreich für den Druckwasserreaktor im Kernkraftwerk Krško / Slowenien sowie innerhalb Deutschlands bei den beiden Reaktorblöcken der Anlage Biblis (RWE Power, Druckwasserreaktoren) und dem Kernkraftwerk Isar 1 (PreussenElektra, Siedewasserreaktor) an – nun auch für den Druckwasserreaktor des Kernkraftwerks Mülheim-Kärlich (RWE Power).
Exakte Ergebnisse, geringe Gesamtaktivität
Hierbei zeigte es sich, dass das neue 3D-Rechenverfahren wesentlich genauere Ergebnisse liefert als die bisherigen 2D-Rechenverfahren: Im Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich um den Faktor 4 niedrigere, im Falle von Biblis sogar um beinahe den Faktor 10 geringere Gesamtaktivitäten. „Dies ist wichtig, da die nukleare Entsorgung von Kernkraftwerken sehr kostspielig ist. Der Betrieb eines Kernkraftwerks hinterlässt radioaktive Gebäudestrukturen und Einbauten, die zuerst zerlegt und anschließend als radioaktiver Sondermüll in speziell dafür konzipierte Behälter entsorgt werden müssen“, erläutert Dr. Imrich Fabry, Projektleiter Aktivierungsrechnungen bei Siempelkamp NIS.
Großes Einsparungspotential
Dank des neuen 3D-Aktivierungsberechnungsverfahrens lassen sich bei der Planung des Rückbaus erhebliche Einsparungen an Gussbehältern gegenüber früheren Planungsberechnungen erzielen, da ein viel größerer Anteil als „mittel-aktivierter“ oder gar als konventioneller Abfall eingestuft werden kann. „Mittel-“ oder „schwachaktivierter“ Abfall wird in erheblich günstigeren Behältern entsorgt. Im Falle von Biblis entspricht dies einer Einsparung von ca. 30 Millionen Euro.
Das Siempelkamp NIS 3D-Aktivierungsrechnungsverfahren – Innovation dank Monte-Carlo-Methode
Das von Siempelkamp NIS eigens neu entwickelte 3D-Aktivierungsrechnungsverfahren basiert auf der sogenannten „Monte-Carlo-Methode“ (siehe Info-Kasten). Das Verfahren führt Computerberechnungen des Transports kernphysikalischer Strahlung (hier Neutronen), die beim Betrieb der kerntechnischen Anlage entsteht, durch komplexe Gebäudestrukturen in dreidimensionaler Geometrie durch. So ist es möglich, den bisweilen sehr langen Weg eines einzelnen Neutrons durch alle komplexen Gebäudestrukturen und unterschiedliche Materialien auf seinem Weg exakt nachzubilden bzw. zu simulieren – ganz so, wie sie in der Natur tatsächlich ablaufen.
Aktivitätsatlas
Somit ist es möglich, jeden Ort im Modell des Reaktors zugänglich zu machen und komplexe Strukturen in hoher Auflösung auszuleuchten – z. B. Reaktordruckbehälter, Kerneinbauten oder weiter außen liegende Strukturen wie den Biologischen Schild oder Hauptkühlmittelleitungen. Insbesondere kann die Neutronenstreuung – auch als Neutronen-Streaming-Effekt bezeichnet– in entlegenen Gebieten sichtbar gemacht werden. Dieses 3D-Rechenmodell bildet die Voraussetzung für einen „Aktivitätsatlas“, der eine Art Reliefkarte des gesamten Reaktors abbildet.
Neu war die Kombination eines hochaufgelösten, komplexen 3D-Reaktormodells mit der nuklearen Mitrechnung, d. h. der Betriebshistorie der Anlage. Im Falle von Biblis waren dies 39 Jahre seit der Inbetriebnahme. Mit der erfolgreichen Anbindung der Betriebsseite an die Rückbauseite in der Aktivierungsberechnung betrat die Siempelkamp NIS Neuland, das bisher in dieser Form niemand getan hatte. „Erst diese Kombination ermöglicht es, Berechnungen des Aktivitätsinventars einer Anlage mit bisher nicht dagewesener Genauigkeit durchzuführen. Damit dies funktionierte, musste in das Monte-Carlo-Programm eingegriffen und der Rechencode teilweise neu programmiert werden.“, beschreibt Dr. Fabry.
Erfahrung führt zur Optimierung
Ein Reaktorblock ist in solch einem Rechenmodell mit jeweils ca. 100.000 „Detektorzellen“ überspannt. Es wird der aus dem Reaktorkern austretende Neutronenfluss während der Betriebsjahre simuliert und die Anzahl der eintreffenden Neutronen in diesen Detektorzellen über die Zeit registriert. Mit dieser Information wird die Aktivität in jeder Detektorzelle berechnet. Das Modell solch eines zu berechnenden Reaktors wird in enger Abstimmung mit den Rückbauexperten der Siempelkamp NIS entwickelt. Die in früheren Rückbauprojekten gesammelten Erfahrungen fließen in die Modellierungsphase des 3D-Aktivierungs-rechnungsverfahrens mit ein. So wird im Fall des Reaktordruckbehälters die Gitteranordnung der Detektorzellen mit der Zerlege- und Verpackungsstrategie harmonisiert. Im Ergebnis führt das zu einer Optimierung der Anzahl benötigter Behälter.
Schließlich werden die Ergebnisse der Aktivierungsberechnungen elektronisch in einer „Aktivitätsdatenbank“ gespeichert. So können die Aktivitätswerte für jeden beliebigen Ort und Zeitpunkt im Reaktor bestimmt werden.
Intelligente Rechenverfahren und Parallel Processing sparen Zeit
Das Monte-Carlo-Rechenverfahren ist so genau, da immer der gesamte Transport eines einzelnen Neutrons mit allen seinen komplexen, physikalischen Reaktionen durch die gesamte Anlage simuliert wird. Das hat allerdings seinen Preis: Nur wenn sehr viele solcher Neutronen gestartet werden, ist das Rechenergebnis an der gewünschten Stelle genau genug. Es handelt sich um ein stochastisches Verfahren, das Elemente der Statistik mit der Wahrscheinlichkeitstheorie verbindet.
Hochentwickeltes Verfahren
Da man die Radioaktivität in der gesamten Anlage berechnen will, hat das zur Folge, dass der Rechenaufwand solch einer Monte-Carlo-Rechnung immens ist. Ein einzelner Standard-Desktop-PC müsste für einen Reaktorblock ca. zwei Jahre lang rechnen, um diese Aufgabe zu bewältigen. Nur dank intelligenter Rechenverfahren (Varianzreduktion) lässt sich die Rechendauer auf wenige Wochen reduzieren. Bei diesen hochentwickelten Verfahren besteht die Kunst darin, Neutronen bevorzugt zu Stellen im Reaktorgebäude zu transportieren, die unter normalen Umständen nur ganz selten ausgeleuchtet werden. Hierbei wird das Ergebnis der Berechnungen nicht verändert. Parallel Processing, d. h. die Verteilung der Rechnungen auf mehrere Computerkerne, hilft dabei unterstützend mit.
Auf diese Weise ist es möglich, Ergebnisse zu erhalten, die mit herkömmlichen Rechenmethoden nicht erreicht werden können; beispielsweise wird die aus dem Reaktorkern stammende (Radio-)Aktivität nach außen hin bis zum äußeren Ende des Bioschilds um ganze 15 Größenordnungen abgeschwächt. Es tritt also praktisch keine messbare Strahlung aus dem Biologischen Schild aus (zum Vergleich: 15 Größenordnungen entsprechen dem Verhältnis zwischen dem Durchmesser eines Haares und dem Durchmesser der Sonne). Andererseits zeigen die Rechnungen aber auch, dass der Reaktordeckel sowie Hauptkühlmittelleitungen von außen durch Neutronenstreaming aktiviert werden.
Dosisbelastung minimieren
Mit diesen Ergebnissen ist es möglich, „Hotspots“ (Bereiche mit besonders hoher Radioaktivität) zu identifizieren, die das Rückbaupersonal meiden kann. Daher lassen sich bei den anstehenden Rückbauaktivitäten sowohl die Dosisbelastung des am Rückbau beteiligten Personals minimieren, als auch die für die Endlagerung zu entsorgenden Abfallmengen sehr gut bestimmen. Dies ermöglicht Anlagenbetreibern eine hohe Planungssicherheit bzgl. der Kosten. Das neuentwickelte Verfahren bietet somit ein effektives Werkzeug für die sichere und wirtschaftliche Planung des Rückbaus mit großem Einsparpotenzial für die Betreiber.
Die Validierung des neuentwickelten Rechenverfahrens – d. h. der Test der Gültigkeit der Rechenergebnisse – wurde 2017 mit Ortsdosismessungen in Biblis A durchgeführt. Es zeigte sich eine hervorragende Übereinstimmung zwischen Rechnung und Messung.
Monte-Carlo-Methode auch für Neubauprojekte
Die aus den bisherigen Projekten gesammelten Erfahrungen können sogar für Neubauprojekte von Kernkraftwerken verwendet werden: Durch die hochauflösenden Berechnungen kann man erkennen, welche zum Teil entlegenen Bereiche im Reaktorgebäude durch Neutronenbeschuss aktiviert werden. Somit können Empfehlungen beispielsweise für bessere Abschirmungen oder alternative Baumaterialien, die nur im geringen Maße durch Neutronenbeschuss aktiviert werden, gegeben werden. Bereits 2018 durfte Siempelkamp NIS für die Planung des Neubaus des PALLAS-Reaktors (Niederlande), der in Zukunft wichtige Isotope für die Medizin herstellen soll, diesbezüglich mit den Erfahrungen aus den Aktivierungsrechnungen im Rahmen eines ersten Projekts tätig werden. Dies stellte das NIS-Team im März auf der KONTEC 2019 vor, dem Internationalen Symposium zur Konditionierung radioaktiver Betriebs- und Stilllegungsabfälle. Siempelkamp NIS ist so mit seinem 3D-Aktivierungsverfahren gut aufgestellt, um deutsche wie internationale Betreiber von Kernkraftwerken bei einer kosteneffizienzsteigernden Rück- und sogar Neubauplanung zu unterstützen.
Was kann "Monte-Carlo"?
Monte-Carlo-Simulationen werden verwendet, wenn analytische Formeln für die Bewertung von Vorgängen in der Natur versagen oder deren Lösung zu komplex ist. Schwierige Fragestellungen in der Physik, in der Welt der Finanzen und vieles mehr lassen sich mit Monte-Carlo-Verfahren beantworten und werden daher in diesen Bereichen eingesetzt.
Das Verfahren stammt aus der Stochastik, einem Teilgebiet der Mathematik, und wurde von den Physikern J. v. Neumann, Metropolis und Ulam im Rahmen des Manhattan-Projekts (Los Alamos, USA) entwickelt. Es basiert auf der sehr häufigen Durchführung von Zufallsexperimenten. Mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitstheorie werden Probleme numerisch gelöst, dabei setzt man auf das Gesetz der großen Zahl: Wird ein Zufallsexperiment immer wieder unter denselben Bedingungen durchgeführt, so nähert sich die relative Häufigkeit immer weiter der Wahrscheinlichkeit des Zufallsexperiments an. Die Zufallsexperimente (im Fall der Aktivierungsrechnungen ist dies eine Vielzahl von Neutronen, welche auf ihrem gesamten Weg simuliert werden) werden durch die Erzeugung von computergenerierten Zufallszahlen durchgeführt.
Als es noch keine Computer gab, wurden Sequenzen von Zufallszahlen aus dem Spielcasino von Monte Carlo verwendet – daher der Name des Verfahrens. Wird so ein Monte-Carlo-Programm wie das von NIS verwendete MCNP zudem noch mit den physikalischen Daten der wissenschaftlichen Forschungen der letzten ca. 80 Jahre kombiniert, ist dieses Verfahren allen anderen an Genauigkeit überlegen. Die Daten werden von internationalen Organisationen wie der Nuclear Energy Agency (NEA) innerhalb der OECD und der International Atomic Energy Agency (IAEA) bereitgestellt.